Zum Projekt COLLAPSE
COLLAPSE behandelt Fragen anonymer und kollektiver Autorschaft in der Antike und gibt erstmals den ungehörten Stimmen griechischer Texte in den Bereichen Dichtung, Religion und Technik Raum.
Da sich urheberlose Texte der auf dem Autor basierenden Gravitationsstruktur der Literaturgeschichte widersetzen, stellen sie nach wie vor eine Herausforderung für die Literaturwissenschaft dar und wurden oft marginalisiert. Das Prinzip der Anonymisierung sowie ihr Zusammenspiel mit dem konträren Phänomen der Onymisierung sind in der Klassischen Philologie und der Gräzistik bislang nicht untersucht worden.
Dieses Problem bildet den Ausgangspunkt für COLLAPSE. Das Projekt versucht, die Art und Weise, wie griechische Literaturgeschichte geschrieben wird, grundlegend zu verändern und diese neu zu schreiben, indem es die Literatur der Kaiserzeit als bedeutende Epoche autorloser Textproduktion in den Mittelpunkt stellt. In Zeiten der Öffnung und Neuperspektivierung der Klassischen Philologie ist es höchste Zeit, Literaturgeschichte neu zu fassen sowie eine methodische Grundlage zu schaffen, um diesen Texten den ihnen gebührenden Platz in der griechischen Literatur zurückzugeben.
COLLAPSE befasst sich daher mit den Prozessen der (An-)Onymisierung sowie den Zusammenhängen von Onymität (und ihrem Spezialfall: Pseudepigraphie) und Anonymität. Durch übergreifende Untersuchungen zielt das Projekt auch darauf ab, Verbindungen zwischen Texten und Kontexten herzustellen, die in der Forschung oftmals isoliert voneinander betrachtet wurden, wie z.B. zwischen epischer Dichtung, frühchristlicher Literatur und Wissenstexten.
Jahrzehnte nach Barthes’ Tod des Autors (1968) erschüttert das digitale Zeitalter weiterhin die Vorstellung individueller, originärer Autorschaft. Mit Blick auf kooperative Netzwerke entsteht der allgemeine Eindruck, der Mensch besitze im Rahmen der Textproduktion nur relative Autonomie. Digitale Technologien fördern intersubjektive Schreibweisen, die sich durch ständiges Zitieren und Modifizieren vom Ausdruck rein subjektiver Erfahrung entfernen. Wir erleben gewissermaßen den digitalen Tod des Autors 2.0.
Im Gegensatz zu den Annahmen der romantischen Genieästhetik, die Kunstwerke als Schöpfungen uneingeschränkt autonomer Künstler betrachtete, problematisiert COLLAPSE Autorschaft und betrachtet sie als kooperative kulturelle Praxis der vormodernen Welt, und damit lange vor der Geburt des einsamen Genies der Romantik. Somit greift COLLAPSE aktuelle Entwicklungen wie etwa populäre Fanfiction-Erzählungen auf digitalen Plattformen auf und betrachtet diese Zugriffe auf kanonische Texte als diachrone Formen von Koautorschaft. Indem COLLAPSE erstmals dezentralisierte Vorstellungen von Autorschaft im Bereich von Fanfiction und Rewriting thematisiert, berührt es diese digitalen Formen des Schreibens und geht zugleich über das engere Feld der Klassischen Philologie hinaus.
Insbesondere die griechische Literatur der Kaiserzeit dient als fruchtbarer Boden, um die (an)onymisierte Textproduktion neu zu denken: Untersuchungen gelten nicht nur der literarischen Pseudepigraphie des antiken Griechenlands mit dem Schwerpunkt auf der Kaiserzeit, sondern auch der Anonymität im Bereich von frühchristlichen Schriften und Wissenstexten. Wenn alle Forschungsrichtungen wie erwartet ineinandergreifen, dann kann die Betrachtung von Praktiken im Bereich von Fanfiction und Rewriting in anonymen und pseudepigraphischen Texten der Kaiserzeit, einschließlich wissenschaftlicher und religiöser Texte, der künftigen Forschung völlig neue Methoden der Literaturgeschichtsschreibung eröffnen.